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Gestürzte Hoffnungen: die tschechische EU-Ratspräsidentschaft im Rückblick

Die Installation "Entropa" des tschechischen Künstlers David Černý im Justus Lipsius-Haus in Brussel.
Foto: Marek Blahuš. Dieses Foto steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

29. Juni 2009
Von Eva van de Rakt
Von Eva van de Rakt

Momentan sind zwei tschechische Fahrradfahrer auf dem Weg nach Stockholm. Pünktlich zur Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft möchten sie Schweden am 1. Juli symbolisch eine Kopie der ältesten Landkarte Böhmens (sie stammt aus dem Jahre 1518) überreichen. Verabschiedet wurden die Fahrradfahrer vergangenen Samstag von dem tschechischen Minister für Europäische Angelegenheiten, Štefan Füle, der Schirmherr dieser Aktion ist. Es ist mutig, sich unter dem Stern der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft auf einen so langen Weg zu machen.
        
Eine Ratspräsidentschaft in Krisenzeiten

Nach dem EU-Gipfel am 18. und 19. Juni fiel so manchem Tschechen ein Stein vom Herzen: Das angekratzte Image der krisengeschüttelten Ratspräsidentschaft konnte durch einen relativ glatt verlaufenen Gipfel halbwegs gerettet werden.

Zu Beginn der Ratspräsidentschaft war in Prag die Rede davon, dass die drei „ E’s“ des Arbeitsprogramms (Economy, Energy, EU in the World) durch drei „G’s“ (Gazakonflikt, Gasstreit, Globale Finanz- und Wirtschaftskrise) und ein anderes „E“ („Entropa“) ausgewechselt worden seien. Das Kunstwerk „Entropa“ des tschechischen Künstlers David Cerny wurde von der tschechischen Regierung in Auftrag gegeben und sollte bis Ende Juni im Brüsseler Ratsgebäude zu sehen sein. Die Skulptur mit dem Untertitel „Stereotypen sind Barrieren, die beseitigt werden müssen“ zeigt 27 Länderbausteine. Die Regierung hatte mit dem Künstler vereinbart, dass 27 europäische Künstler beteiligt sein werden. David Cerny erfand daraufhin 26 Biografien fiktiver Künstler und gab dies erst kurz vor der Enthüllung Mitte Januar bekannt. Die Darstellung Bulgariens als eine Ansammlung von Hocktoiletten sorgte für diplomatische Verstimmungen.      

Hoffnung auf Erfolg

Die ersten drei Monate der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft gaben aber auch Anlass zu der Hoffnung, dass Tschechien im Ausland zukünftig nicht vorrangig mit den absurden Äußerungen des Staatspräsidenten Václav Klaus, einem beißenden Humor und den Abenteuern des braven Soldaten Schwejk in Verbindung gebracht würde.

So bewies das Team um Premier Mirek Topolánek beim russisch-ukrainischen Gasstreit Verhandlungsgeschick und kommunizierte innerhalb der EU die Befürchtungen der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, die von dem russischen Lieferstopp besonders betroffen waren. Schweden äußerte Interesse, den tschechischen Botschafter für Energiesicherheit, Václav Bartuška, in der folgenden schwedischen EU-Ratspräsidentschaft als Berater einzusetzen. Dies muss man als ein Zeichen des Erfolgs und der Anerkennung werten. In Bezug auf die außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten richtete die tschechische EU-Ratspräsidentschaft ihre Aufmerksamkeit auf die östlichen Nachbarn der EU und betonte, dass eine EU-Beitrittsperspektive für die Demokratieentwicklung in vielen europäischen Transformationsländern eine wichtige Voraussetzung sei.

Im ersten Quartal nahmen zudem die Medienberichte über EU-Themen in Tschechien selbst zu und gewannen auch an Qualität. Einige tschechische Regierungspolitiker durchlebten während der eigenen EU-Ratspräsidentschaft einen regelrechten Zivilisierungsschub: Sie wurden zu Staatsmännern.

Doch spätestens Ende März wurden die Europäer an die Gründe erinnert, die gegen das Rotationsprinzip der EU-Ratspräsidentschaft sprechen: Kurz vor dem Besuch Barack Obamas Anfang April in Prag wurde die tschechische Regierung gestürzt. Neben oppositionellen Abgeordneten stimmten auch Politiker aus den Reihen der Regierungskoalition für das von den Sozialdemokraten beantragte Misstrauensvotum. Die vor Beginn der Ratspräsidentschaft hauptsächlich in Westeuropa diskutierte Befürchtung, Tschechien könne die mit der EU-Ratspräsidentschaft verbundenen Herausforderungen nicht bewältigen, schien sich leider zu bewahrheiten. Der Zeitpunkt des Regierungssturzes bestätigte die Vermutung, dass die Mehrheit der tschechischen Politiker die Interessen der EU und ihre eigene Verantwortung für das europäische Projekt nicht ernst nimmt.

Enfant terrible

David Cerny gab nach dem Regierungssturz bekannt, dass er als Zeichen des Protests gegen das erfolgreiche Misstrauensvotum sein Kunstwerk schon vor Ende der Ratspräsidentschaft aus dem Brüsseler Ratsgebäude entfernen werde. Cerny war schon vor der Ratspräsidentschaft ein in Tschechien bekannter Skandalkünstler. „Entropa“  brachte ihm den internationalen Ruf eines Enfant terrible. Diesen Ruf wurde auch die tschechische EU-Ratspräsidentschaft nach dem Regierungssturz nicht mehr los.  
 
Am 8. Mai übernahm eine Übergangsregierung unter Premier Jan Fischer, dem bisherigen Leiter des tschechischen Statistikamtes, die Ratspräsidentschaft. Die neue Regierung versteht sich als „Expertenregierung“ und wird das Land bis zu den vorgezogenen Neuwahlen im Oktober regieren. Das innenpolitische Desaster schuf Raum für ein Intermezzo des tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus. Einige Tage fürchtete man nicht nur in Brüssel, dass der bekannte Euro- und Klimaskeptiker den EU-Gipfel im Juni leiten werde. In diesem Fall wären die Programmpunkte „Vertrag von Lissabon“ sowie „Internationaler Klimaschutz“ sehr wahrscheinlich von der Tagesordnung verschwunden. Das Motto der Ratspräsidentschaft „Europa ohne Barrieren“ und die Slogans „Wir versüßen Europa“ sowie „Wir werden Europa in Einklang bringen“ klangen zu diesem Zeitpunkt wie ein schlechter Scherz.

Ende gut, alles gut?

Aus politischer Sicht wurde die Ratspräsidentschaft durch das erfolgreiche Misstrauensvotum geschwächt. Auch wenn die Tschechische Republik die Ratspräsidentschaft administrativ zufriedenstellend abschließen konnte und der EU-Gipfel im Juni kein katastrophales Ereignis darstellte, wirkte sich der Regierungssturz negativ auf die politische Aussagekraft der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft aus.
 
Als Erfolg des EU-Gipfels wertet die tschechische Übergangsregierung die Tatsache, dass man sich auf Garantien für Irland einigen konnte, die ein erneutes Abstimmen über den Vertrag von Lissabon möglich machen sollen. Auch in Bezug auf die Regulierung der Finanzmärkte habe man durch Entscheidungen, die die Bildung eines neuen Finanzaufsichtssystems zum Ziel haben, eine politische Einigung erzielt. Zu den erfolgreichen Schlussfolgerungen des Gipfels zähle außerdem die Bereitschaft der EU, einen gegenüber den Entwicklungsländern fairen Anteil an der Beisteuerung von Finanzmitteln zur Umsetzung des weltweiten Klimaschutzes zu leisten.

Der Gipfel wagte aber weder Aussagen über konkrete Summen für den internationalen Klimaschutz noch darüber, wie in diesem Zusammenhang auf internationaler Ebene Finanzmittel generiert werden könnten.

Angela Merkel brachte Jan Fischer gegen Ende der Ratspräsidentschaft ihre Anerkennung entgegen und betonte, Außenminister Jan Kohout und dessen Mitarbeiter hätten die Kontinuität der EU-Ratspräsidentschaft gesichert. Nicolas Sarkozy erwähnte vergangenen Freitag, Jan Fischer habe seine Arbeit sehr gut erledigt, er sei ruhig und gelassen. Was davor war, habe Sarkozy schon wieder vergessen, die tschechische EU- Ratspräsidentschaft werde gut enden.

Das Kunstwerk „Entropa“ wurde mittlerweile an der Fassade des Prager Zentrums für Moderne Kunst DOX  installiert. Auf die Frage, ob die Skulptur Wind und Wetter standhalten werde, antwortete David Cerny, „Entropa“ sei wetterfest. In diesem Punkt eilte die tschechische EU-Ratspräsidentschaft dem Kunstwerk voraus: Die neu installierte Regierung hielt dem Sturm stand. Europa hat die tschechische EU-Ratspräsidentschaft trotz der instabilen innenpolitischen Lage in Tschechien überlebt. Doch trotz einiger Erfolge kann man die Enttäuschung über ihren Verlauf leider nicht verbergen. Es bleibt zu hoffen, dass die zwei tschechischen Fahrradfahrer unversehrt in Stockholm ankommen werden.

Eva van de Rakt ist Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag.

Der Beitrag ist in gekürzter Fassung auf Zeit Online veröffentlicht worden.

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